Zwischen religiösem Extremismus und Aufklärungsunterricht

Märtyrer in den Kammerspielen
Benjamins Mutter (Edith Abels) verzweifelt am religiösen Eifer ihres Sohnes (Maik Rogge). (Foto: Nico Manger)
Schlau inszeniertes Drama um einen harmlosen Schüler, der zum christlichen Fundamentalisten mutiert. Das amüsante und fabelhaft gespielte Stück berührt dadurch, dass es die speziellen Probleme, die die Pubertät mit sich bringt, mit gesellschaftlich relevanten Fragen verknüpft. So gelingt es, die gedanklichen Auswüchse des Protagonisten immer in Interaktion mit seinem sozialen Umfeld zu betrachten. 

Eine Kritik von Kerstin Schorpp
 
„Pubertät ist eine vorübergehende Geisteskrankheit.“ Das Publikum lacht, denn Vertrauenslehrerin Erika Roth (Maria Brendel) hat diesen Lebensabschnitt gut auf den Punkt gebracht. Auch Benjamin benimmt sich merkwürdig. Benjamin ist in der Pubertät. Benjamin wird zum Fundamentalisten. Weder seine Lehrer, noch der Pfarrer oder Gleichaltrige können ihn davon abhalten. Mutter Inge (Edith Abels) schon gar nicht. Maik Rogge spielt mit vollem Enthusiasmus die Rolle des Benjamin Südel, in die er mit seiner Statur und den zerzausten blonden Haaren auch optisch sehr gut hinein passt.

In der Inszenierung von Andreas von Studnitz fühlt sich der Zuschauer mitten im Geschehen. Als wäre er für 90 Minuten ebenfalls Teil von Benjamin Südels Leben. Immer wieder nimmt einer der Schauspieler in der ersten Reihe zwischen den Zuschauern Platz und spielt von dort aus im Scheinwerferlicht weiter. Die Bühne inklusive Podest befindet sich in der Mitte des Raumes, davor und dahinter sitzt sich das Publikum gegenüber. Bühnenbildnerin Anika Wieners platziert zur einen Seite ein Sofa, zur anderen einen Sessel und einen Crosstrainer für Sportlehrer Dörflinger (Alexander Hetterle). Die Schauspieler nutzen rege die drei Türen des Theatersaals zum Ein- und Austreten, wodurch der Eindruck der Teilhabe am Stück verstärkt wird. Es herrscht allgemein viel Bewegung auf der Bühne, die Zeit vergeht wie im Flug. Markante Szenenwechsel werden geschickt mit bläulichem Schwarzlicht und melancholischer Hintergrundmusik eingeleitet. Veronica Silva-Klugs Kostüme unterstreichen perfekt den jeweiligen Charakter der Figuren: Die prolligen weißen Turnschuhe des einfach gestrickten Sportlehrers Dörflinger, Pfarrer Menrath stets im hochgeschlossenen Talar und Tussi Lydia mit Neon-Akzenten, die beim Szenenwechsel im Schwarzlicht leuchten.

Seine Klassenkameradin Lydia, wunderbar gespielt von Claudia Kraus, versucht beständig Benjamin zu bezirzen. In ihrem Auftreten inklusive Hotpants, bauchfreiem Oberteil und Kreolenohrringen erinnert sie sehr an Chantal aus den Fuck ju Göhte-Filmen. Doch Benjamin hat weder Augen für sie, noch für die zarten Annäherungsversuche seines Schulfreunds Georg (Sven Mattke). Seine Aufmerksamkeit gilt der wörtlichen Auslegung der Bibel. Er beginnt in Bibelzitaten zu reden. Bikinis, Evolutionstheorie und Ehescheidung haben in seiner Weltsicht fortan keine Daseinsberechtigung mehr. Als Benjamin sich an einer Wunderheilung von Georgs Behinderung versucht, wirkt das kurios. Aber das Stück trifft an dieser Stelle wieder einmal den Zeitgeist und setzt sich einfühlsam mit den Themen Homosexualität und Inklusion auseinander.

Foto: Nico Manger
Das Publikum amüsiert sich prächtig, als es mit Karotten und Kondomen in den Sexualkundeunterricht einbezogen wird und als Benjamin sich in der Unterrichtsstunde auch noch vollständig entblößt, um gegen Verhütung zu protestieren, gehen belustigt-erschrockene Aufschreie durch die Reihen. Mutter Inge ist mit den neuerlichen Ansichten ihres Sprösslings heillos überfordert, der chauvinistische Schuldirektor Batzler (Uwe Fischer) versucht sich geschickt aus der Affäre zu ziehen und Sportlehrer Dörflinger kann Benjamin sowieso nicht ernstnehmen und tut sein Verhalten als jugendliche Spinnerei ab. Einzig seine Biologielehrerin Frau Roth (authentisch gespielt von Maria Brendel) bemüht sich, sich in ihn hineinzuversetzen und sucht immer wieder das Gespräch mit ihm. Die Atheistin jüdischer Herkunft wird so zur Gegenspielerin Benjamins, die konfliktreichen Auseinandersetzungen der beiden eskalieren zunehmend und finden am Ende des Stücks ihren Höhepunkt. 


Marius von Mayenburgs Stück „Märtyrer“ ist allerdings mehr als nur ein Pubertätsdrama. Es greift Fragen von Verantwortung und Zuständigkeit, von Moral und Freiheit, von Glaube und Säkularität auf. Das Mainfranken Theater präsentierte am 12. November eine rundum gelungene Premiere der Lebenswelt eines Jungen, der vom unauffälligen Schüler zum fundamentalistischen Christen wird.

Weitere Vorstellungen:  24. und 26. November |  9., 16. und 19. Dezember | 7., 13., 20., 24. und 30. Januar | jeweils um 20 Uhr

Mehr zum Stück auf der Seite des Mainfranken Theaters.

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