"Vielleicht braucht es einen Fall, bei dem jemand unschuldig in die Fänge der Algorythmen gerät."

Dramaturgin Wiebke Melle über das fehlende Problembewusstsein der Gesellschaft

Wiebke Melle ist Dramaturgin am Mainfranken Theater.
In der Inszenierung von Kafka 2.0 von Björn Gabriel wird das Scheitern eines Menschen am Überwachungsstaat exemplarisch dargestellt. Anna Sophia Merwald unterhielt sich mit Wiebke Melle, der Dramaturgin des Stücks, unter anderem darüber, wie viel uns Sicherheit und Freiheit wert sind und was wir bereit sind, dafür in Kauf zu nehmen. Am Ende des Gesprächs ist klar: Wissen ist Macht.

Was ist das Ziel der Inszenierung? 
Wiebke Melle: Was Björn Gabriel und mich beschäftigt hat, war eben, was in unseren Köpfen passiert, wenn wir mit dem Thema Überwachung konfrontiert werden und mit der Frage: Wie frei sind wir im Internet? Es gibt ja nicht den einen großen Skandal, nach dem sich alles verändert, wir passen uns eher sukzessive an einen Zustand an, der erst mal nicht lebensgefährlich ist, aber etwas mit unserem Kopf macht: Wir fangen an uns selbst zu beschneiden. Im Programmheft habe ich es die „Zurichtung des Bewusstseins“ genannt, was sehr dramatisch klingt, aber für mich einfach Selbstzensur beschreibt. Wir sind ja nach wie vor alle frei und können uns frei bewegen und wenn wir uns begrenzen, dann aus einem vorauseilenden Gehorsam heraus.

Diesen Punkt findet man auch bei Kafka. 
Melle: Kafkas Stärke ist natürlich, dass er in seinen Erzählungen und Romanen immer wieder Gesellschaften entwirft, die erst einmal kein faschistisches System haben - es wird nie ganz klar, welches autoritäre System beschrieben wird - es ist nur klar, irgendetwas stimmt da nicht, irgendwie sind diese Figuren unfrei. Sich diesem Ganzen anders zu nähern war – mit vielen Worten gesagt - das Ziel des Abends.

Wie ist die Idee zu Kafka 2.0 entstanden? 
Melle: Es gab erst einmal die Idee, einen etwas tagesaktuelleren Abend zu machen zu einem Thema, das gerade virulent ist. Zu dem Zeitpunkt war das tatsächlich das Thema Überwachung, da hat die NSA-Affäre schon die ersten Beben verursacht – es ging um das Ausspähen des Kanzlerhandys. Dass dann diese Entscheidung gefällt wurde, nicht einen Roman oder eine Erzählung von Kafka zu nehmen und die dann auf die Bühne zu bringen, hing sehr stark mit der Arbeitsweise von Björn Gabriel zusammen: sich aus bewährten Stoffen Punkte auszusuchen, die er in die Gegenwart ziehen kann und Auszüge aus den Texten zu nutzen, die ihm bei Kafka am relevantesten erscheinen.

Unfrei im undurchsichtigen System: Kafka 2.0 stellt Fragen nach Überwachung und Selbstzensur. (Foto: Gabriela Knoch)
Es ist ja an sich eine sehr aufwendige multimediale Inszenierung, welche Probleme oder Herausforderungen gab es da bei der Umsetzung? 
Melle: Zunächst mal war es, glaube ich, für die Schauspieler ungewohnt und aufregend, weil von Beginn an klar war, die Textfassung, die sie bekommen, ist nicht die ultimativ letzte: Sie mussten sich also erstmal darauf einlassen, dass sich immer noch etwas daran ändern wird und es eben keine klare, konventionelle Dialogsituation gibt. Natürlich war es technisch sehr herausfordernd, gerade der Einsatz der Video-Projektionen hat sehr viele Proben beansprucht. Vor allem auch Mitarbeiter aus dem Bereich Technik wurden diesmal stärker gefordert. Manche der Schauspieler hatten zwar schon Erfahrung mit dem Medium Video, trotzdem mussten sie sich natürlich auf diese neue Spielform mit der Kamera einlassen.

Haben sich dabei spezielle Aufgaben für Sie als Dramaturgin ergeben? 
Melle: Ich war abseits der normalen Produktionsbetreuung, also den Probenbesuchen und dem Erstellen von Schauspielermaterialien, zusätzlich dafür zuständig, in den Texten von Kafka nach Zitaten zu suchen, die dann auch im Laufe des Abends eingeblendet werden. Im Wesentlichen war ich also Textzulieferer.

Das Stück beginnt ja schon vor dem Stück mit den ersten Kontrollmaßnahmen. Dabei müssen sich die Zuschauer vor dem Betreten der Kammerspiele zur Leibesvisitation mit dem Rücken zur Wand stellen. Jetzt ist man durch Videoüberwachung auf öffentlichen Plätzen schon mit so etwas vertraut. Nähern wir uns da einer totalen Überwachung oder dient all dies nur unserer Sicherheit? 
Melle: Weder das eine noch das andere: Natürlich mag es durchaus sinnvoll sein, dass öffentliche Plätze überwacht werden. In urbaneren Gebieten gibt es wohl kaum einen Bahnhof, der nicht überwacht wird. Ich finde es aber bedenklich, dass trotz all der Überwachung gewisse Verbrechen nicht vermieden werden können. Trotzdem finden Anschläge in Paris, in Boston statt. Es fehlt eine Art kluger Zugriff auf all diese Daten, denn was macht man damit, wenn man sie eigentlich nicht wirklich auswerten kann? Da stellt sich für mich die Frage: Wie viel erreicht man damit tatsächlich? Vielleicht befinden wir uns noch nicht in der totalen Überwachung, man läuft da schnell Gefahr Verschwörungstheorien auf den Plan zu rufen. Es geht um eine gewisse Vorsicht und ein Problembewusstsein.

Grenzt uns das Internet eher in unserer Meinungsfreiheit ein? 
Melle: Ich glaube, wir nähern uns tatsächlich diesem Punkt langsam an: Niemand würde heutzutage allen Ernstes über Wochen hinweg googeln, wie man eine Bombe baut oder einen Sprengsatz bastelt. Jeder weiß mittlerweile, dass das heikel wäre, aber das ist genau der Punkt: Es könnte ja auch einfach nur zu Recherchezwecken für einen Artikel oder ein Theaterstück gesucht werden. Ich bezweifle, dass sich alle Leute einschränken, aber es setzt allmählich an. Es gibt Studien dazu, die das belegen.

Foto: Gabriela Knoch
Laut dem Begriff der „Pseudo-Privatheit“ überlassen wir beispielsweise dem Staat schulterzuckend jegliche Rechte an unseren Daten nach dem Motto „Ich habe nichts zu verbergen, also macht mir das nichts.“ Gehen wir zu leichtfertig damit um? 
Melle: Weil es uns auch nicht unbedingt leicht gemacht wird. Wenn im Internet etwas aufpoppt, fragt man sich zweimal, ob man sich diese allgemeinen Geschäftsbedingungen alle durchlesen soll. Es gibt da erstens so ein gewisses Grundvertrauen, dass da schon nichts passieren wird, weil man eigentlich nichts zu verbergen hat. Das zeigt natürlich eine gewisse Leichtfertigkeit und Bequemlichkeit auf Seiten der Nutzer. Und dann aber auch auf Seiten der Konzerne und Websites, dass sie es auch ein Stück weit schwierig machen überhaupt nachzuvollziehen, was wir denn preisgeben. Projekte wie Wikipedia sind das Internet der ersten Generation, wo es um das digitale Dorf ging. Wir befinden uns gerade an so einem Punkt, wo aus diesem freien Internet, wo es um das Teilen geht und kostenlos Information veröffentlicht werden, der Kapitalismus Einzug hält. In diesem Internet der zweiten Generation wird versucht, hauptsächlich finanziellen Nutzen daraus zu ziehen statt altruistisch damit umzugehen.

Liegt es denn nicht in unserer Verantwortung, dass dieses ganze System so überhaupt fruchten kann? 
Melle: Ja, ich denke, wir müssten uns selbst ein bisschen mehr darum kümmern, was ja auch bei Kafka immer wieder auftaucht, dass die Figuren sich freiwillig in etwas reinbegeben, sie werden nicht ultimativ dazu gezwungen, es gibt dann irgendwann die Bereitschaft „naja, es wird schon alles seine Richtigkeit haben“. Es wird also etwas akzeptiert, was vielleicht hinterfragt werden müsste.
Den einzigen Ausweg aus dieser permanenten Überwachung, die auch in der Inszenierung omnipräsent ist, bildet dann nur noch das Aufsetzen einer Maskerade.

Brauchen wir gerade dann mehr dieser widerständigen Individualisten wie zum Beispiel Franz 1 in Kafka 2.0?
Melle: Natürlich gibt es Leute wie Edward Snowden, die ein Problembewusstsein haben und viele Dinge öffentlich machen, die falsch laufen. Aber ich denke, dass sich das Problembewusstsein genereller ausprägen müsste und Leuten stärker bewusst wird, was eigentlich gerade passiert. Es ist ja so wunderbar schleichend, dass man sich ganz gut damit abfinden kann.

Warum, glauben Sie, ist dieses Thema nicht dauerhaft in den Medien präsent?
Melle: Das liegt natürlich teilweise auch daran, wie die Aufmerksamkeitsökonomie funktioniert: Es gibt gewisse Themen, die mal eine Woche oder ein paar Tage im Fokus stehen und dann andere schleichende Prozesse verdrängen. Wie zum Beispiel die Flüchtlingskrise, die ja offensichtlich ein Problem ist, bei dem es um Menschen geht und dann kümmert man sich erst einmal darum und vergisst ein Stück weit, dass parallel immer noch der NSA-Untersuchungsausschuss tagt.

Was wäre ein Punkt, an dem die Bürger aufwachen würden und realisieren, was da mit ihren Daten passiert? 
Melle: Ich befürchte, dass es für den einzelnen erst zum Problem wird, wenn er selber einmal damit Erfahrungen macht. Im Vorfeld habe ich mich auch damit beschäftigt, wo ist denn ein BRD-Bürger damit mal in Berührung gekommen, wo wurde Kafka denn real in dieser unheimlichen Konfrontation mit geheim wirkenden Strukturen?  Danach ist dann wahrscheinlich tatsächlich nichts mehr, wie es vorher war. Vielleicht braucht es so einen Moment, wo ein Justizirrtum stattfindet, wo jemand, der nichts getan hat, in die Mühlen gerät, weil er im Internet etwas Falsches gegoogelt hat oder sich zu seinen Jugendzeiten in linksradikalen Spektren engagiert hat, die dann später verdächtig werden. Wenn so ein Fall an die Öffentlichkeit käme, wo jemand unschuldig in die Fänge der Algorithmen gerät und es ein Irrtum ist, dann würde das Problembewusstsein wachsen.

Braucht es so einen Fall, damit sich mehr Gedanken gemacht werden? 
Melle: Ich befürchte leider, ja, weil es dann über den Aufreger oder den Skandal funktioniert. Ein Einzelschicksal ist immer emotionaler als sich in juristische Geschäftsbedingungen einzulesen.


Kritiken zu Kafka 2.0:

Ulrike Meyer
Zwischen Freiheit und Amerika

Anna Sophia Merwald
Der gläserne Mensch

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